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Buchrezension: Habe ich genug getan? In memoriam Gunnar Kaiser

Gunnar Kaiser fehlt. Wie oft habe ich diese Worte, angesichts der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Spaltung in so vielen Bereichen, allein in den letzten Tagen gelesen. Vielleicht liegt es an meiner Social-Media-Blase, aber keine Frage: er fehlt mir auch!

Man traut es sich ja kaum zu sagen, einen „Held der Gegenwelt“ zu vermissen, wie Gunnar Kaiser in einem Nachruf der Welt, der auf dem Klappentext des hier besprochenen Buchs erwähnt wird, bezeichnet wurde. Der Autor Raymond Unger holt diesen Helden für uns vom Sockel, macht ihn nochmals greifbar und lebendig. Für ihn war er mehr als ein bekannter Lehrer, Publizist, Philosoph, Moderator, Journalist und Videoblogger, der in der Öffentlichkeit, wie viele eigenständige Denker und kritische Kommentatoren des Zeitgeschehens, als umstritten galt. Als Freund und intellektueller Wegbegleiter, jedenfalls in den letzten Jahren, teilt Raymond Unger zwar Gunnar Kaisers Perspektive auf die Welt, kennt aber auch seine Abgründe und Widersprüche.

Raymond Unger

Raymond Unger wäre nicht Raymond Unger, würde er uns diese vorenthalten. Wer ihn als Künstler und Autor kennt, weiß, dass sein Blick dem Schatten gilt: dem persönlichen wie dem kollektiven. Ganz im Sinne Carl Jungs ist es zu seiner Gewohnheit geworden, diesen in den Blick zu nehmen, um ihn nicht mehr verdrängen zu müssen, und ihn so, im Lichte des Bewusstseins, verändern zu können. Damit erschreckt er zwar zuweilen sein Publikum, nimmt dem Schatten aber letztlich sein zerstörerisches Potenzial, das nur dann zum Tragen kommt, wenn er abgespalten im Unterbewusstsein wütet. Raymond Unger eignet sich deshalb so sehr für diese Laudatio auf seinen Mitstreiter, weil beide diese Grundhaltung teilten. Auch Gunnar Kaiser ging den Dingen auf den Grund, hinterfragte die Zusammenhänge jenseits der moralisch verklärten und wissenschaftlich verbrämten Oberfläche. Die Gegenwelt, die er dort fand, war jene verdrängte Schattenwelt, um die sich auch das Werk des Autors Raymond Unger dreht.

Die Schattenwelt, die Gunnar Kaiser aufdeckte, war eine Schattenwelt der Unfreiheit und Selbstentfremdung. Und die vorliegende Lektüre legt nahe, dass er deshalb so sehr bestrebt war, sich ihr zu stellen, weil sie ihm auch als Teil seiner eigenen psychischen Struktur bekannt war. Freiheit, gelebte Individualität und Selbsterkenntnis wurden so zu seinen Lebensthemen, die ihn nicht mehr losließen. Das machte ihn auch zu einem guten Zuhörer und um Verständnis bemühten Nachfrager – Qualitäten, die er sich als Gastgeber für Interviewpartner aller Art zunutze machte. Berührungsängste hatte er keine. Sein Youtube-Kanal lebte davon. Vor allem aber hat Gunnar Kaiser in einer schwierigen Zeit vielen seiner 250.000 Follower emotionalen Halt gegeben mit seinem klaren Blick. Doch was den einen Halt gab, war den anderen zu viel. Denn die entscheidende Frage, so Raymond Unger, ist: „Wie viel Wahrheit kann man verkraften?“

Schon allein die von Gunnar Kaiser aufgeworfenen Fragen waren vielen zu viel. Er musste also bekämpft (oder zumindest ausgegrenzt) werden, weil er als Gefahr für die Gesellschaft wahrgenommen wurde. Wer „Extremisten“ eine Plattform bot, ihnen aufmerksam zuhörte, die Corona-Maßnahmen, ja die Pandemie selbst in Frage stellte, musste ein Unmensch sein. Denn dies ist bei weitem leichter zu verkraften als eine unmenschliche Gesellschaft, welche sich einen Anschein von Solidarität, Freiheitsliebe und Humanität gibt, aber oftmals genau das Gegenteil verkörpert und praktiziert.

Trotz schlüssiger und überzeugender Argumente musste Gunnar Kaiser in Ungers Worten also „den schrecklichsten Gesellschaftsentwicklungen machtlos zusehen“. Ungers Fazit: das macht krank. Erstaunlich ist, dass sich Gunnar Kaiser trotz seiner schweren Krebserkrankung nicht aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Und doch hat ihn seine Krankheit verändert. Aus seinem „Habe ich genug getan?“ wurde ein „Habe ich genug gebetet?“. Und angesichts seines bevorstehenden Todes und der Frage nach dem Seelenheil erzählt er, wie ihn jemand an der Hand hält, eine gute Macht, und sagt: „Du darfst hier sein, sonst wärst du nicht hier, und du musst nichts leisten dafür – du darfst einfach hier sein.“

Wo immer seine Seele nun ist, möge sie frei und glücklich sein.

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